Der Autofahrer zahlt immer
Um den Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer - Fußgänger, Radfahrer, Kinder - zu verbessern, soll in diesem Sommer das Schadensersatzrecht reformiert werden. Im Mittelpunkt der Reform steht die Ausdehnung der Gefährdungshaftung.
Schon heute muss der Betreiber eines gefährlichen Gerätes - dazu zählt auch ein Auto - dafür haften, wenn ein anderer verletzt wird. Kommt dennoch jemand zu Schaden, ist der Betreiber dem Geschädigten zu Schadensersatz verpflichtet. Allerdings erhält der Geschädigte nur Ersatz für entstandene Sachschäden sowie für die Heilbehandlung. Einen Anspruch auf Schmerzensgeld besteht hingegen nur, wenn dem Verursacher grobe Fahrlässigkeit oder gar Vorsatz anzulasten ist.
Ein Beispiel: Eine ältere Frau weicht auf dem Gehweg einem Radfahrer aus und stolpert auf eine viel befahrene Einfallstraße. Der Fahrer eines vorbeifahrenden Autos kann trotz angepasster Geschwindigkeit nicht mehr reagieren und erfasst mit seinem Auto die Frau, die dabei einen komplizierten Beinbruch erleidet. Aus der Gefährdungshaftung ist der Autofahrer - beziehungsweise seine Haftpflichtversicherung - der verletzten Frau zu Schadensersatz verpflichtet. Weil aber der Autofahrer weder zu schnell fuhr, noch damit rechnen musste, dass die Frau auf die Straße tritt, hat er weder fahrlässig noch vorsätzlich gehandelt. Die Frau kann daher allenfalls von dem Radfahrer, der widerrechtlich den Gehweg benutzte, Schadensersatz fordern - vorausgesetzt, der Übeltäter hat sich nicht aus dem Staub gemacht.
Schadensersatz auch bei optimalem Verhalten
"Künftig wird der Autofahrer bei jedem Unfall Schmerzensgeld zahlen müssen, auch dann wenn er sich optimal verhalten hat", kommentiert Verkehrsrechts-Experte Oliver Rösner die geplanten Änderungen. Der Autofahrer aus dem oben beschriebenen Beispiel wird dann auch noch das Schmerzensgeld für die verunfallte Frau zahlen müssen, obwohl ein anderer Verkehrsteilnehmer den Unfall verursacht hat und er völlig schuldlos zum Beteiligten wurde. Die Folge: Die Schadensumme nimmt deutlich zu, und damit steigt auch die Höhe der Rückstufung im Schadensfreiheitsrabatt.
Auch Kinder unter zehn Jahren will der Gesetzgeber künftig besser absichern. Bei einem Unfall mit einem Kind soll der Autofahrer für den vollen Schadensersatz plus das fällige Schmerzensgeld selbst dann aufkommen müssen, wenn das Kind den Unfall selbst verursacht hat. Nach dem aktuellen Gesetzes-Entwurf ist es dabei bedeutungslos, ob der Unfall grob fahrlässig oder sogar vorsätzlich herbeigeführt wurde - der Autofahrer haftet in jedem Fall. Die Haftung des Kindes gegenüber Dritten entfällt hingegen. Sollte also ein Beifahrer bei dem Unfall ebenfalls verletzt werden, hat dieser in Zukunft keine Ansprüche mehr gegen das Kind als Unfallverursacher. Auch in diesem Fall muss der Fahrer zahlen.
Die Versicherer sind zufrieden
Die Versicherungswirtschaft begrüßt die geplanten Änderungen, auch wenn sie mit einer Zunahme der Prozesse zur Klärung von Haftung und Mithaftung rechnet. Die positive Haltung der Versicherungswirtschaft ist nicht verwunderlich, denn für sie ergeben sich aus den Plänen des Gesetzgebers ausschließlich Vorteile. Auch wenn sich die Summe der von den Versicherern zu leistenden Schadensersatzzahlungen deutlich erhöht - unter dem Strich zahlt der Versicherte die Zeche. Denn dieser verliert seinen Schadensfreiheitsrabatt und refinanziert auf diese Weise die Versicherungsleistung.
Nach Einschätzung von Michael Wagner, Leiter der Kfz-Schadenabteilung bei der Allianz AG in München, ist die "Formulierung des Gesetzentwurfs missverständlich". Die Allianz rechnet deshalb mit einer Zunahme der Prozesse um Schadensersatz und Schmerzensgeld, was zur Folge hätte, dass sich die Abwicklung der Schäden zusätzlich verzögert. Der so entstehende Zinsgewinn dürfte beachtlich sein: Allein die Allianz als größter deutscher Kfz-Versicherer hat im vergangenen Jahr rund 1,75 Milliarden Euro für den Ausgleich von Schadensersatzansprüchen ausgezahlt - ein beträchtlicher zweistelliger Millionen-Betrag kommt so schnell zusammen. Und schließlich lässt sich die erwähnte Prozess-Zunahme als Verkaufsargument für Rechtschutz-Versicherungen nutzen.
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Schmerzensgeld: Das neue Recht
Vom 1. August an gilt bundesweit ein verändertes Schadensersatzrecht, das auch einen allgemeinen Anspruch auf Schmerzensgeld vorsieht. Das bislang oft mühsame Verfahren, bei dem viele Geschädigte ihre Ansprüche durch mehrere Gerichtsinstanzen erstreiten mussten, soll künftig vereinfacht werden.
Höhere Haftungsgrenzen
Damit verbessert sich nach Angaben des Bundesjustizministeriums in Berlin die Situation für Verbraucher, Opfer von Verkehrsunfällen und Arzneimittelgeschädigte. So konnte bislang nicht jedes Unfallopfer Schmerzensgeld beantragen: "Der Anspruchsteller musste ein Verschulden des Verursachers nachweisen", erläutert Ministeriumssprecherin Andrea Boehnke. Künftig gilt ein anderes Verfahren: Wer beispielsweise durch eine explodierende Sektflasche verletzt werde, könne künftig auch Schmerzensgeld vom Hersteller bekommen.
Im Straßenverkehr werden neben der Einführung von Schmerzensgeld bei unverschuldeten Unfällen auch die Haftungshöchstgrenzen für den Schadensersatz angehoben: Bei Unfällen, die niemand verschuldet hat, von bislang 383.468 Euro (750.000 Mark) auf drei Millionen Euro für alle Opfer zusammen, bei einzelnen Opfern von maximal 255.645 Euro (500.000 Mark) auf 600.000 Euro.
Schuld oder nicht Schuld
"Die Verbesserungen sind gut, betreffen aber nicht die Masse der Unfälle", sagt Hans-Jürgen Gebhardt, Rechtsanwalt in Bad Homburg und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht im Deutschen Anwaltverein. Bei der überwiegenden Zahl der Verkehrsunfälle sei ein Verschulden nachzuweisen: Hier hafte der Schuldige ohnehin unbegrenzt. Zudem nehme das Gesetz Bagatellschäden vom Schmerzensgeld aus, kritisiert Gebhardt.
Mehrwertsteuer wird nicht mehr ausbezahlt
Schlechter gestellt werden Autofahrer laut Gebhardt durch die Neuregelung der Abrechnung nach einem Unfall. Bislang konnte sich ein Geschädigter aussuchen, ob er mit dem von der Versicherung des Unfallgegners erhaltenen Geld das Fahrzeug reparieren lassen oder mit der Beule weiterfahren wollte. Diese Wahl ist zwar auch künftig noch möglich, doch wenn das Fahrzeug nicht in einer Werkstatt repariert wird, wird die Mehrwertsteuer vom Schadensersatz abgezogen.
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